Roman über Helsinki: Die Verschwundenen von Helsinki

Die Verschwundenen von Helsinki

Renne im Laufschritt die Treppen hoch. Der Schlüssel, der mal wieder nicht auf Anhieb ins Schloss passt, bremst mich aus. Mit Wucht geht die Tür endlich auf. Der Einkauf bleibt im Flur auf dem Boden stehen.

Ich greife nach dem Umschlag, reiße ihn hastig auf und habe es endlich in der Hand. (Ich habe den Roman über Helsinki antiquarisch erstanden, daher kam es mit der Post.)

Die einsame Frau mit Regenschirm auf dem Cover.

Ein schmales Bändchen. Noch im Stehen fange ich an zu lesen. Der Titel hatte mich gefesselt, doch die ersten Sätze saugen mich regelrecht hinein ins Buch:

Die einsame Frau mit Regenschirm

„An dieser Frau fesselte mich etwas schon von weitem. Vielleicht war es ihre Art zu gehen: unvorhersehbar, unschlüssig, als müsste sie mit jedem Schritt neu entscheiden, wohin sie wollte.“

Batsch. Ich bin gefangen. Ab der ersten Seite, in den Sätzen, in jedem einzelnen Wort. Trinke seine Wörter, lausche seinen Satzgebilden, wie sie sich formen, in einer Leichtigkeit, dass sie davonzufliegen drohen.

Seine Beschreibungen des Regens. In diesen Regen stelle ich mich gern, von diesem Regen lasse ich mich gern nass regnen, diese Tropfen dürfen gern auf mein Gesicht klatschen, meine Frisur ruinieren und in Rinnsalen an meinen Armen zu Boden gehen.

Ich bin hin und weg. Kann es kaum aus der Hand legen.

„Wir traten hinaus in einen Tag ohne Licht.“ Was für ein Satz. November in Helsinki. Vielleicht Oktober.

Atemlos verschlinge ich die Seiten, die Sätze, die Buchstaben. Nach 60 Seiten hole ich das erste Mal Luft.

Der Ich-Erzähler taucht ein in eine Recherche, entdeckt eine Schriftstellerin, die ich ebenso wie dieses Buch entdeckt hatte, vor einigen Jahren, und dessen Erzählungen den Ich-Erzähler offenbar ebenso sehr berührten wie sie mich berührt hatten. Sie waren von einer nicht greifbaren, aber ständig spürbaren Traurigkeit durchzogen. Ein gewebtes Netz aus unterdrückten Tränen schimmerte durch die Druckerschwärze durch.

Wieso? Wieso kamen diese Bücher zu mir? Was wollen sie mir sagen?

Roman über Helsinki: Joel Haahtela: Die Verschwundenen von Helsinki

Roman über Helsinki

Raija hiess die Schriftstellerin auch noch, ist mit 50 in ihrer Wohnung verbrannt. Auch noch in Kotka. Bezüge über Bezüge, die keine sind und doch versuche ich Linien zu entdecken, Verbindungen, Gemeinsamkeiten, Parallelen herzustellen.

Was denn nun?

Juha kannte die Frau, hatte anerkennend von ihr gesprochen und den Daumen hochgereckt: very good. Und in diesen zwei Worten steckte ganz viel Ehrfurcht und Respekt vor einem grossen Menschen oder Geist oder Talent.

Ich versuche zusammenzusetzen und gleichzeitig löst es sich in Luft auf.

Aufgeregt lese ich weiter und lese genau diesen Satz auf Seite 55: „Als wollte ich Stück für Stück etwas zusammensetzen, das sich gleichzeitig in Luft auflöste.“

Unheimlich. Wie können Autor und Leser dasselbe denken und schreiben. Zeitversetzt. In anderen Ländern, zu anderen Zeiten, hier Sonne, da kein Licht. Hier Erntezeit mit Traktorenlärm und schwüle Süsse von reifen Früchten, dort ein staubiges, düsteres, einsames Archiv des finnischen Literaturinstituts, Manuskripte in Kartons, hier ein glänzendes Ipad. Der Autor oder Ich-Erzähler in Helsinki, ich am Bodensee.

Was passiert?

Ich muss weiterlesen, auch wenn mir nach den wenigen Stunden Schlaf in dieser Nacht (und den stressigen Frühnews), jetzt am Nachmittag die Augen zufallen wollen, der Körper endlich seinen verdienten Schlaf nachholen will.

Und er schreibt: „als schwankte ich zwischen zwei Welten, als hätte ich alle Möglichkeiten, könnte mich nur nicht entscheiden, ob ich mich auf etwas zu bewegen sollte oder von etwas weg.“

Meine Augen rasen über die Zeilen. Jeder verliert sich, verliert sich im anderen.

S. 86: „Als ob alle Orte, an denen wir gewesen waren, all die Zeit in sich bargen, die sich dort angesammelt hatte, ob jeder Moment sich ewig wiederholte.“

Ich krieche der wandernden Sonne auf dem Sofa hinterher. An Schlaf ist nicht zu denken, auch wenn meine Glieder bleiern sind, mein Mund trocken und die Augen brennen.

Roman über Helsinki: Buchseiten

Mittlerweile bin ich auf Seite 102, ich falle kopfüber in dieses Buch, zwischen seine Seiten, tauche zwischen den Buchstaben und Absätzen, atme die Punkte und die Satzzeichen, hole zwischendurch keuchend Luft.

Auf meinem Gesicht immer noch die ungewöhnlich warme Oktobersonne, deren Strahlen sich durchs offene Fenster an mir auf mir festsetzen, mich aufheizen, umarmen und wärmen.

Während der Erzähler friert, vom Regen durchnässt und vom Wind durch die Straßen gepeitscht wird. Und man weiß nicht genau, was ihn mehr antreibt. Seine Suche nach der toten Raija, dem vermissten Franzosen oder vielleicht die Suche nach ihm selbst, seinem Ich, seinen verlorenen Träumen, seinem Lebenssinn.

Krummgewehte Kiefern, das stumme Meer, Kiesstrand, glatte Granitfelsen.

Es verschwimmt immer mehr, wer sucht wen, wer ist wer, eine leise Tragik allerorten spürbar, wie ein roter Faden, der sich durch alle Leben webt und spannt, sich verheddert und wieder losreißt. Ohne Anfang und Ende.

S.124: „(…) das Fieber vom Vergessen und Erinnern.“

S.125: „Auch wenn ich noch so weit reiste, näher als jetzt würde ich ihnen nicht kommen, mehr würde ich nie erfahren.“

Und jemand sieht sie, nimmt einen Stift in die Hand und schreibt die ersten Worte dieser Geschichte.

Aufwachen

Die Tränen bahnen sich ihren Weg, genauso warm wie die Sonne, die immer noch über dem gegenüberliegenden Dach hängt und ihren Job macht.

Nein, nicht aufhören, bitte. Laut und flehend stoße ich diese Worte in den Raum, aber sie finden nirgends Anklang, zerschellen ungehört an der Wand, sinken zu Boden und lösen sich auf.

Bitte nicht die Illusion nehmen, dass das alles nur eine Geschichte ist, die jemand auf Papier gekritzelt hat. Nein, dafür ist sie zu magisch, einsaugend, fesselnd, berührend.

Wenn sie weitergehen soll, müsste ich sie selbst weiterschreiben. In meinem Kopf. In meinen Gedanken, meiner Fantasie.

Ich blättere um, doch da kommt nichts mehr. Nur eine Danksagung:

„Dieser Roman ist Raija gewidmet, in deren Büchern Glück verborgen ist.“

 

 

Joel Haahtela: Die Verschwundenen von Helsinki. Aus dem Finnischen von Sandra Doyen. Berlin Verlag München 2013.

Raija Siekkinen: Wie Liebe entsteht. Dörlemann Verlag Zürich 2014.

(KEINE WERBUNG)

Joel Haahtela, geboren 1972, lebt als Schriftsteller und Psychiater mit seiner Familie in der Nähe von Helsinki. Seine bislang fünf Romane wurden für den Runeberg-Preis und den Finlandia-Preis nominiert.

Weitere Tipps für Helsinki:

Von fliegenden Saunen, fahrenden Kneipen, schwimmenden Badewannen und unterirdischen Höhlen.

Von sprechenden Kanaldeckeln und geheimen Kneipen.

111 überraschende, einzigartige, bezaubernde Orte in Helsinki.

 

Tarja Prüss & Juha Metso: 111 Orte in Helsinki, die man gesehen haben muss. Emons Verlag Köln 2018.

240 Seiten.

ISBN: 978-3740803421

16,95 Euro

5 Kommentare zu „Die Verschwundenen von Helsinki“

  1. Pingback: Der November der Nordnerds: Das geht ab im Norden! • Fjordwelten

  2. Wow, bei deinem Schreibstil weiß man ja an mancher Stelle gar nicht mehr, wo das Buch aufhört und deine Erzählung beginnt. Das hat einfach wahnsinnig viel Spaß gemacht zu lesen!

    Freundlich finnische Grüße
    Deine Bruni

    1. Liebe Bruni,
      danke für deine Nachricht. Ja, das kann ich gut nachvollziehen. Manchesmal wusste ich auch nicht mehr, geschieht das gerade in der Realität oder ist es schon Fiktion…. 🙂
      Liebe Grüße,

      tarja

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