Finnischer Tango – zwischen See und Sehnsucht
Finnischer Tango – das ist für mich die vertonte finnische Seele – sehnsüchtig, still, tief – und immer in Moll. Und in dieser Tonart erzählt er Geschichten von flüchtigen Sommernächten, von Abschieden am Bahnhof, vom Warten auf die wahre Liebe und stiller Wehmut nach vergangener Liebe. Tango, das sind Gefühle in Moll, ausgesprochen durch Takt und Schritte im Gleichklang – wie der letzte Sonnenstrahl einer Mittsommernacht – noch warm und doch schon voller Abschied.
Inhaltsverzeichnis
Hierzulande kennt man Weinköniginnen, Spargelköniginnen und Schützenkönige. Aber Tango-Könige – die gibt es nur in Finnland. Die Tango-Königin und der Tango-König werden jedes Jahr auf dem ältesten Tango-Festival der Welt in Seinäjoki gekürt. Dann tanzen rund um die Uhr zigtausende Tangoliebhaber auf den Straßen der Stadt und feiern den Tango, der sich so gern einer Beschreibung mittels Worten entzieht.
Zwei der gekrönten Häupter waren jetzt bei den Bregenzer Festspielen zu Gast: Arja Koriseva (Tango-Königin 1989) und Johannes Vatjus (Tango-König 2019) – zusammen mit dem Tango-Ensemble Alakulo und Moderator Roman Schatz, ein Autor vom Bodensee, der seit vielen Jahren in Helsinki lebt.
Der Grund: Die neue finnische Intendantin der Festspiele Lilli Paasikivi bringt ganz viel ihrer musikalischen Herkunft nach Bregenz, darunter Musik von Sibelius, das finnische Nationalinstrument Kantele und eben Tango.
Der Tango-Abend war die erste Veranstaltung der Festspiele, die ausverkauft war. Noch kurz vor Beginn versuchten einige am Eingang, eine vielleicht nicht abgeholte Karte zu ergattern.

Finnischer Tango am See
Auch wenn viele Tango nicht sofort mit Finnland in Verbindung bringen:
Der Tango gehört so sehr zum finnischen Sommer wie Schnee und Eis zum finnischen Winter. Ein Abend zum Mittanzen – direkt am See – vor der untergehenden Sonne.
Doch bevor es so richtig losging, traf ich Arja, Johannes und Roman zum Interview, um mehr über sie und ihre Leidenschaft für den Tango zu erfahren.

Die Tango-Königin Arja Koriseva
Arja Sinikka Koriseva (1965) gehört zu Finnlands bekanntesten Stimmen. Ihren Durchbruch feierte sie als Tango-Königin – doch wer sie heute auf der Bühne erlebt, weiß: Arja erobert die Herzen ihres Publikums, ihre Ausstrahlung erreicht die Menschen sofort – direkt, echt und über alle Sprachgrenzen hinweg.
Musik war für Arja von klein auf Teil des Lebens. In ihrer Familie wurde gesungen, musiziert und getanzt. „Meine Eltern hörten immer Iskelmä (finnische Volks-, Schlager- und Popmusik). Mein Onkel, Erkki Friman, war ein bekannter Harmonikka-Spieler, Komponist und Dirigent des berühmten Tango-Sängers Reijo Taipale. In unserem Zuhause waren eigentlich immer Musiker.“ Seit sie 13 Jahre alt ist, singt sie Tango. Zusammen mit ihrer Schwester Eija gründete sie ihre erste Tango-Band. Und seitdem hat der Tango sie nicht mehr losgelassen.
Mit 17 Jahren begann sie klassische Musik zu studieren. “Aber dann gewann ich 1989 den Tangokönigin-Gesangswettbewerb. Und im selben Jahr machte ich meinen Schulabschluss als Grundschullehrerin. Also bin ich sozusagen Lehrerin, aber ich habe nie einen Tag unterrichtet.“
Mit dem Sieg beim legendären Tangomarkkinat wurde sie über Nacht zur gefeierten Sängerin. Seitdem füllt sie Konzertsäle nicht nur in Finnland, sondern auch in Kanada, Australien, Jordanien, Großbritannien und der Schweiz. Auch hat sie Hauptrollen in vielen Musicals übernommen.

Der Tango-König Johannes Vatjus
Ganz anders verlief Johannes Vatjus Karriere. Er wuchs in einem sehr gläubigen Haushalt auf. „Meine Geschichte ist sehr anders. Weil bei uns zu Hause nur Kirchenmusik gehört wurde, als ich Kind war. Ich hörte heilige Musik, Tangomusik und Tanzmusik jeden Tag – und meine Familie mochte keine Tangomusik, weil unsere Familie anders war.“ Mit 16 Jahren bekam er 200 Finnische Markka von seiner Mutter, um Gesangsunterricht zu nehmen.
„Die Tangomusik kam 2010 in mein Leben. Und dann war es die Zeit, dass ich sie selbst viel sang und am Klavier spielte und Musik machte. 2013 traf ich einen alten Freund, der Akkordeon spielte. In Lappland – in seinem Mökki- machten wir gemeinsam Musik.“
Der Tenor studierte klassischen Operngesang in Finnland, Italien und Deutschland, doch er merkte bald, dass es ihn mehr zum Tango hinzog.
Schließlich waren es seine Freunde, die ihn ermutigten, 2019 beim Tango-Wettbewerb in Seinäjoki mitzumachen. „Es war das erste Mal, dass ich mit einer Tanzkapelle gesungen habe. Und ich gewann den Wettbewerb. Aber ich hatte keine Zeit zu singen, denn dann kam die Covid-Pandemie und es konnten keine Konzerte stattfinden.“ Heute ist er freischaffender Opernsänger und tritt regelmäßig an der Finnischen Nationaloper auf.

Die finnische Tango-Seele
Tarja: Was sagt der finnische Tango über die finnische Seele aus?
Arja: Es ist die Musik, die die Menschen zusammenbrachte und nahe brachte.
Du hast einen Grund, um auf einen fremden Menschen zuzugehen und ihm nahe zu sein, ohne dass man reden müsste. Und es war erlaubt, sich so nahe zu sein. Als der Tango vor Jahren nach Finnland kam, war er eine wichtigere Tanzform für die Leute als heute.
Johannes: Heute ist es leichter, zusammenzukommen und vielleicht auch sich zu nähern. Aber früher war die Kultur eine andere. Heute gibt es so viele Arten von Musik. Aber damals war die gängige Musik dieses Iskelmä. Und Tango war Teil des Iskelmä und der Tanzkultur. Und die Texte sind emotional, es geht um Leidenschaft und Gefühle. Also waren sie wie die Sprache der Leute.
Der Tango erzählte von ihren eigenen Emotionen.

Tango als Ausdrucksform, eine andere Form von Sprache und eine nordische Variante der (manchmal unterkühlten) Leidenschaft, aber auch der Versuch, sich in unsicheren Zeiten aneinander festzuhalten. Der finnische Tango lebt in Moll – und die Finnen haben keine Angst vor Melancholie. Es ist nicht Schwäche, es ist nicht Untergang, sondern Teil ihrer Geschichte und ihres Lebens. Die Moll-Tonleitern entsprechen dem finnischen Sein. Sehnsüchtige Wehmut, dieses „kaiho“, ist im Tango genauso wie in der finnischen Seele verankert.
Schaut man sich die Entstehungsgeschichte des Finnischen Tangos von 1913 bis heute zusammen mit den geschichtlichen Wandlungen des Landes an, dann ist Tango Bestandteil der finnischen Identität und Selbstvergewisserung und heute eine der Säulen der finnischen Tanz- und Musikkultur.
Wenn sie tanzen, dann spricht nicht der Mund, sondern der Körper. Nähe nicht durch Worte, sondern durch gemeinsame Schritte übers Parkett – wie Herzschläge im gleichen Takt – wie zwei Boote, die durch leichten Wind über dem See im gleichen Rhythmus hin- und herschaukeln.

Roman und das Tango-Ensemble Alakulo
Tarja: Roman, wie ist es für dich, wieder zurück zu sein am Bodensee, da wo du geboren und aufgewachsen bist?
Roman: Wunderschön. Ich sehe 1.000 Segelboote auf dem See, 1.000 Motorboote, noch mehr Häuser, Menschen und darüber den Zeppelin. Wenn ich da an einen finnischen See denke: ein bis zwei Häuser und sonst nur Wasser und Wald. Schon ganz anders.
Tarja: Was ist für dich die Definition des Finnischen Tangos?
Roman: Tango, das ist die Möglichkeit, einen Menschen ganz fest zu umarmen, ihm ganz nah zu sein und sogar ihn zu riechen. Es gibt in Finnland über 2.000 lavatanssit, also Tanz-Treffpunkte (oft ein einfacher Holzboden im Wald oder am See)- und das bei 5,5 Millionen Einwohnern. Es ist die Lieblingsmusik der Finnen: Sibelius für den Kopf und Tango fürs Herz.

Das finnisch-britische Alakulo Ensemble – Alakulo bedeutet auf Finnisch Melancholie – spielt traditionelle und moderne Tangos aus Finnland. Es besteht aus den Profimusikern David Gordon am Klavier, Chris Garrick an der Violine, Jani Pensola am Kontrabass und Jarmo Julkunen an der Ukulele.
Und wie der „echte“ finnische Tango ist, das verriet Roman Schatz zusammen mit Alakulo in einem rap-artigen Tango: von „introvertiert und impulsiv“ bis „schizophren und suizidal“: Auf Youtube gibt es dazu ein Video: https://www.youtube.com/watch?v=X—ufTLSDU
Nur „echt“ ist der finnischen Tango natürlich in Moll – oder anders ausgedrückt: Der Tango ist der Blues der Finnen.
Dafür muss man übrigens keinen Tanzkurs machen (wobei es hilft, finde ich). Nicht Tanzschritte stehen im Vordergrund, sondern das Gefühl. Manche behaupten, es sei ein langsamer Schwoftanz – Hauptsache eng – Bauch an Bauch, Knie an Knie. Alles andere ergibt sich.
Und das Gefühl, das sprang über – von den Künstlern aufs Publikum. Selbst wer kein Wort verstand, konnte doch die Botschaft der Lieder erfühlen – oder ertanzen.
Und so dauerte es auch nicht lang, bis die ersten Paare vor der Bühne zu den finnischen Tango-Klängen übers Parkett schwebten. Die Tanzfläche selbst übrigens zeigte die Lichtspiele auf einem finnischen See. Dazu ein Vorhang mit dem Motiv eines finnischen Birkenwaldes zusammen mit Impressionen des finnischen Sommers mit dem besonderen Mittsommer-Licht sowie echte Birken schufen die passende Atmosphäre. Nicht zu vergessen: der Bodensee, ein milder Sommerabend und ein ins Blassrosa absinkender Abendhimmel.
Einige Gäste hatten sich unter den Königen offenbar preisgekrönte Tango-Tänzer erhofft, doch das tat der Stimmung keinen Abbruch. Die tanzfreudige Intendantin Lilli Paasikivi brachte allein locker zwei Dutzend Menschen zum Tanzen.

Der berühmteste finnische Tango, „Satumaa“ von Unto Mononen – eine musikalische Sehnsuchtsinsel, die es in über 1.000 Variationen auf Platte gibt – durfte an diesem Abend ebenso wenig fehlen wie das beschwingte „Onnen maa“ und weitere Klassiker, die manche im Publikum sofort erkannten.
Zwischendurch lüfteten die Tango-Majestäten ihre ganz persönlichen Geheimnisse: Arjas Herz schlägt besonders für „Rannalla“ (Am Strand) – ein Stück, das nach salziger Seeluft, warmen Sommerabenden und der Stille zwischen zwei Herzschlägen klingt. Johannes dagegen verfällt jedes Mal den „Öiset kitarat“ (Gitarren der Nacht), deren Melodie wie silbrige Saiten durch die Dunkelheit schwingt.
Mit jeder Note öffnete sich ein neues Fenster in die Gefühlswelt des finnischen Tangos: mal zart und flirrend wie das Mittsommerlicht, mal tief und dunkel wie ein See in der Nacht. So tauchten die Gäste behutsam ein – und nahmen ein Stück finnischer Seele mit nach Hause.
„Uns ist bewusst, dass es ein Teil unserer Kultur ist. Und es gibt viele Leute, die diese Kultur bewahren wollen. Sie wollen dafür arbeiten.
So wie wir es tun, wenn wir Tango singen. Wir wollen, dass die Leute im Kopf behalten, dass wir diese Tanzkultur haben, die sonst niemand hat.
Sie ist sehr einzigartig. Und wir sind stolz darauf.
Deshalb ist es wichtig. Weil es für unsere Großeltern wichtig war. Für unsere Eltern. Und wir wollen, dass es weitergeht.“– Arja Koriseva
Und so endete der Tango-Abend am See wie er begonnen hatte – mit diesem leisen Schwingen zwischen Wärme und Wehmut. Der Mond spiegelte sich im Bodensee, die Tangoschritte hallten nach – und für einen Abend war Finnland ganz nah. Und der See erzählte dieselben Geschichten wie an einem Mittsommerabend im hohen Norden.

FAQ
1. Was ist das Besondere am Finnischen Tango?
Der finnische Tango ist fast immer in Moll komponiert und erzählt Geschichten von Sehnsucht, Liebe und Abschied. Er gilt als Spiegel der finnischen Seele und wird oft als „Blues der Finnen“ bezeichnet.
2. Seit wann gibt es den Tango in Finnland?
Der Tango kam um 1913 nach Finnland und wurde schnell Teil der Tanz- und Musikkultur. Besonders nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelte er sich zu einer der beliebtesten Musikrichtungen des Landes.
3. Was bedeutet „kaiho“?
Kaiho beschreibt eine typisch finnische Form der sehnsüchtigen Wehmut – eine Mischung aus Melancholie und Hoffnung. Diese Stimmung prägt viele finnische Tangos.
4. Was ist der Tangomarkkinat in Seinäjoki?
Das Tangomarkkinat ist das älteste und größte Tangofestival der Welt. Dort werden jedes Jahr der Tango-König und die Tango-Königin gekürt. Das Festival zieht Zehntausende Besucher an.
5. Was ist Iskelmä?
Iskelmä ist der finnische Begriff für populäre Unterhaltungsmusik – eine Mischung aus Schlager, Pop und volkstümlicher Musik. Tango ist bedeutender Teil dieser Musiktradition.
Der Begriff stammt aus den 1930er-Jahren und bedeutet wörtlich etwa „Schlager“ oder „Hit“.
6. Muss man tanzen können, um finnischen Tango genießen zu können?
Nicht wirklich. Zwar wird oft eng und im Gleichklang getanzt, doch im Mittelpunkt steht das Gefühl, nicht die Perfektion der Schritte.

