Tuuletar © Tarja Prüss

Die Windgöttinnen TUULETAR: Sehnsucht

Ich fahr durch die Vollmond helle Nacht nach Hause – die CD läuft zweimal durch. Aber es fehlt dieses eine Lied. Das Lied der Lieder. Und auch wenn sich der Mond alle Mühe gibt, es ist viel dunkler als in einer lauen finnischen Sommernacht.

Rückschau: Als Winde kommen sie auf die Bühne. Hauchen in unterschiedlichen Stärken in die Mikrophone und zeigen uns, wie der Wind bei ihnen zuhause klingt. An- und abschwellend. Mal zart, dann wispernd. Sofort entstehen Bilder im Kopf. Bei mir von wirbelnden Schneeflocken in der Luft, die der Wind vorsichtig von der obersten Schneeschicht am Boden ablöst, aufhebt und ein Stückchen vor sich hertreibt.

Der Beginn des Konzerts von Tuuletar im Kulturzentrum Linse in Weingarten. Auf Einladung der Deutsch-Finnischen Gesellschaft war Tuuletar auf Deutschland Tournee.

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TUULETAR UND DIE MAGIE DES NORDENS

 Tuuletar ist die Göttin des Windes in der finnischen Mythologie. Doch nicht aus Kalevala, sondern aus Kanteletar. Ebenfalls eine Sammlung alter Gedichte, Reime und Verse, erzählen die vier an ihrem CD-Stand.

Da finden sich viele Geschichten über Tuuletar. Sie kann wie der Wind alles sein: stürmisch, sanft, gefährlich, sinnlich, streichelnd.

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„Wir sammeln die Essenz davon. Es kann auch als weiblicher Geist beschrieben werden,“ sagt Sini. „Und das zusammen beschreibt gut unsere Art, Musik zu machen: weiblicher Geist und die Essenz von Tuuletar.“

 Tuuletar – das sind Venla Ilona Blom (Beatboxing und Gesang), Sini Koskelainen (Gesang), Johanna Kyykoski (Gesang), Piia Säilynoja (Gesang).

Sini trägt Glitzerschminke unter den Augen. Sie glänzt im Licht der Bühne wie goldene Tränen, wenn sie von der Sehnsucht singt, von den Elementen und der Natur.

 „Natur bedeutet eine Menge für uns. Sie inspiriert uns, Songs zu schreiben. Sie bringt die Gefühle in die Landschaften, die wir in unseren Songs beschreiben,“ sagt Sini.

„In Finnland empfinde ich großen Frieden, wenn ich in der Natur bin. Wenn ich an einem See sitze und aufs Wasser schaue. Es ist irgendwie auch ‚back to the roots‘ – zurück zu den Wurzeln.“ Sie denkt nach und fügt hinzu: „Vielleicht ist das die ’northern magic‘ – die Magie des Nordens. Die Natur hat viel mehr Platz.“

VOCAL FOLK HOP

Die vier stimmgewaltigen Frauen entwickeln eine vokale Power, die keine weiteren Instrumente braucht. Das liegt wohl auch der „human beat box“ von Venla. Sie erzeugt mit ihrem Stimmapparat groovige Beats, sodass man den Eindruck hat, irgendwo hinter dem Vorhang müsste noch ein Schlagzeuger versteckt sein.

Sie kombinieren alte Volksmusik mit hiphop-artigem Sprechgesang, vermischen es mit außergewöhnlichen Gesangstechniken, packen urbane Rhythmen dazu und verweben es mit Joiken oder Gurgeln. So entsteht ein unverwechselbarer Sound, in dessen Noten man die Verehrung und Sensibilität für die verletzliche Natur, die uralten Mythen und Geschichte Finnlands spürt.

Tuuletar experimentieren mit Tönen, Stimmungen und Schwingungen. Nehmen Einflüsse aus der ganzen Welt auf, bleiben aber der Muttersprache und dem musikalischen Erbe Finnlands treu. Sie selbst nennen ihr Genre: Vocal Folk Hop!

Ihre Pläne für die Zukunft: im Herbst gehen sie nach Taiwan, im nächsten Jahr steht Indien auf dem Spielplan. Und große Pläne dürfen sie schmieden. Ihre Songs schlagen in den Weltmusikcharts richtig ein. Kaum ist ihre neue CD draußen, steht sie schon in den Top 10.

SEHNSUCHT MUSIK – SEHNSUCHTSMUSIK

Auf dem Weg nach Hause: Die Songs entführen mich nach Finnland – in eine andere Zeit, in der ich noch nicht war, nie sein werde und mich doch so zuhause fühle.

Und ich weiß, es war nie schöner dort – und es könnte nie schöner sein als es je war. An diesem unbekannten Ort, an dem ich noch nie war und doch immer schon – so fremd und vertraut.

Fühle mich tränen-voll-sehnsüchtig, aber nicht traurig – mein Herz füllt sich mit den Tönen – mit diesem mehrstimmigen Gleichklang und zugleich fühle ich eine ungestillte Leere und unstillbare Sehnsucht.

Alles ist im Widerspruch und doch so stimmig.

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Die mehrstimmigen Melodien erzeugen Schwingungen in mir, für die ich keine Worte finde. Noch nicht oder nimmer mehr. Frequenzen, ganz neu und doch so bekannt. Schwingungen, die nur fühlbar, nicht greifbar sind, in den Tiefen meiner Selbst.

In diesen Tönen steckt die ganze Zeit – ich fühle mich auf wundersame Weise uralt und verwandelt, als wäre ich durch mehrere Jahrhunderte gezogen und hätte alle Weisheit dieser Zeit, dieser Landschaften, allen Schmerz und alle Einsamkeit, die sich in ungezählten Tagen angesammelt hat, in einem einzigen Moment, in einem einzigen Lied gespürt und empfunden. Tief und wahrhaftig und voller Einsamkeit und Stille, trotz all dieser Töne, die mein Innerstes berühren.

full moon 1Die vier Frauen singen ohne Mikrofon, verteilt im ganzen Raum – füllen ihn allein mit ihren Stimmen, mal gemeinsam, mal allein. Minun sydämeni kipeää on… und ich fühle genau diese Sehnsucht. Sehnsucht nach diesem unbekanntem Ort, diesem nicht gefühlten Gefühl.

Ich möchte in diesen Tönen versinken, mit den Worten verschmelzen, in der Mehrstimmigkeit verstummen.

Und nach diesem Lied ist alles gesagt. Alles getan, alles ausgeatmet.

Es ist der Song von allem Anfang, allem Wesentlichen, allem Gewesenen und allem Zukünftigen. Selten zuvor hat mich Musik in dieser Art und Weise berührt, wie diese vier Stimmen und dieses althergebrachte traditionelle finnische Volkslied. Tonfolgen, die so
uralt sind, so lebendig, wissend und tiefgehend schön – als hätte ein gottgleiches Wesen das Lied der Lieder vollbracht. Ein Song, der alles enthält, was das Leben ausmacht.

KAIPAAVA – SEHNSUCHT

Nur dieses eine Lied höre ich noch sehr oft in dieser Vollmond beschienenen Nacht. Sitze noch lange am Fenster und betrachte den weißlichen Mond – mit seinem perfekten Kreis – die Scheibe leuchtet aus tausenden Kilometern zu uns herab.

Lange nicht sind so viele Tränen in einer Nacht geflossen. Sie sind warm und salzig und ohne jegliche Bitterkeit. Sie sind voller Sehnsucht. Eine wärmende Sehnsucht, mit der man sich zudecken und in die man sich einkuscheln kann wie in eine warme Decke.

full moon 3Ich betrachte die silbernen Schlieren, die der Mond auf dem See hinterlässt und die hellen Streifen am Himmel. Und er strahlt und lässt nicht nach. Steigt höher und lässt die Dinge einfach geschehen. Die Dinge hier unten. Die meine Seele aufwühlen und alles umwälzen in mir.

Familiengeschichten. Was haben sie mir alles mit auf meinen Weg gegeben. Wie viel trage ich mit und in mir. Ich bin ein Kriegsenkelkind. Ein Flüchtlingsenkelkind. So viel mehr wird weitergegeben als nur Gene. Jede Zelle hat das abgespeichert.

Ich bin hier. Und ich bin dort. Durch alle Zeiten. Schwerelos und doch so schwermütig verzaubert vom Klang.

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KAIPAAVA (Traditionelles Finnisches Lied)

Ja ilman kuuta ja aurinkoa tämä maailma pimiä on. Sula raijaijai, sula rallallei, tämä maailma pimiä on. Ja yhden pojan tähden minun sydämeni kipiä on. Sula raijaijai, sula rallallei, minun sydämeni kipiä on. Sinä hienoinenkuin heinä, mina matala niinkuin maa. Sula raijaijai, sula rallallei, mina matala niinkuin maa. Oi jos sinä kultani tienäisit mitten ikävä minulla on! Niin var maanhan sinä rientäisit,etkä matkalla viipyisi. Sula raijaijai, sula rallallei, etkä matkalla viipyisi.

7 Kommentare zu „Die Windgöttinnen TUULETAR: Sehnsucht“

  1. Du sprichst mir aus tiefster Seele! Danke für die schöne Beschreibung, genauso habe auch ich Tuuletar erlebt!

    1. Lieber Martin,
      das kommt nicht oft vor, dass man die Stimmung eines anderen nur mit Worten zu treffen vermag – und das nach so einem besonderen Konzert. Umso mehr danke ich dir für diese schöne Rückmeldung! Herzlich, tarja

  2. Tolle Musik! Habe mir den Song gerade angehört … War letztes Jahr das erste Mal in Finnland, und die grandiose Weite der Natur geht mir nicht mehr aus dem Kopf. Das Lied transportiert mich gleich wieder zurück nach Oulu Ende Juni, als die Sonne nicht unterging und wir Hochzeit gefeiert haben …
    Danke!
    LG

    Susanne

  3. Ich war auch bei einem Tuuletar-Konzert dabei 🙂 Habe erst noch überlegt, ob ich hingehen soll, weil ich die Band bisher nicht kannte…aber mein Finnischlehrer hat es un vorgeschlagen und da dachte ich, geh ich einfach mal hin 🙂 Und ich habe es nicht bereut…es war einfach toll 🙂
    Und deine Beschreibung des Konzertes, einfach toll 🙂

  4. Pingback: Suomi 100 Countdown: #4 Tage bis zum Geburtstag Finnlands | Tarjas Blog

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